Volltextsuche

Dienstag, den 11. Juli 2017 um 07:53 Uhr

Entwicklungssprünge auf dem Weg zur Pflanze

In der Entwicklung des höheren Lebens im Verlaufe vieler Millionen Jahre hat es immer wieder bedeutende und vergleichsweise plötzliche Entwicklungssprünge gegeben. In ihrer Folge erwarben Lebewesen neue Eigenschaften und eroberten zusätzliche Lebensräume. Dabei eigneten sie sich diese Fähigkeiten zum Teil aus ihren Vorläufer-Organismen an: Die Plastiden der Pflanzen, der Ort an dem Photosynthese stattfindet, waren beispielsweise ursprünglich eigenständige, einzellige Lebewesen.

Die entwicklungsgeschichtliche Verwandlung von Cyanobakterien in solche Zellorganellen, die Endosymbiose, ermöglichte der Pflanzenzelle die Fähigkeit zur Photosynthese und damit zur Gewinnung von Energie aus Sonnenlicht. Offenbar auf vergleichbarem Weg ist eine ähnlich wichtige, damit zusammenhängende Eigenschaft der Pflanzen und anderer höherer Lebewesen entstanden: Ein internationales Forschungsteam vom Institut für Allgemeine Mikrobiologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und vom israelischen Weizmann Institute of Science fand Hinweise, dass die Redox-Regulation im pflanzlichen Stoffwechsel ihren Ursprung in zwei aufeinanderfolgenden Plastiden-Endosymbiose-Ereignissen hatte. Die Ergebnisse der vom Kieler Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“ geförderten Arbeit veröffentlichte das internationale Forschungsteam kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Nature Plants.

Die Entwicklung der Plastide ist von grundlegender Bedeutung in der Evolution der Pflanzen. Global betrachtet brachten sie die sogenannte Primärproduktion in Schwung, lieferten also Sauerstoff und Nahrungsgrundlage für alles Leben auf der Erde. Für den neu erlangten Vorteil der Energiegewinnung durch Photosynthese zahlte die Zelle gewissermaßen einen evolutionären Preis. Sie musste auf die Bildung hochreaktiver und potenziell schädlicher Nebenprodukte reagieren, der sogenannten Radikale. Als Antwort darauf entwickelte die Zelle die Fähigkeit, freie Radikale aufzuspüren und diese Information zu nutzen, um ihre Stoffwechselaktivitäten über einen einzigartigen regulatorischen Mechanismus, die Redox-Regulation, zu kontrollieren. Da gerade Sauerstoff dazu neigt, diese problematischen Moleküle zu formen, gewann die Redox-Regulation mit der erhöhten Verfügbarkeit von Sauerstoff in der Erdvergangenheit an Bedeutung - einem Zeitraum, der mit dem fundamentalen Entwicklungssprung hin zum vielzelligen Leben verbunden wird. Um den evolutionären Ursprung der Redox-Regulation zu ergründen, verglich Dr. Christian Wöhle, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Genomische Mikrobiologie der CAU, das Netzwerk Redox-regulierter Proteine der Kieselalge Phaeodactylum tricornutum mit Lebewesen verschiedener anderer Stämme. Als entwicklungsgeschichtlich sehr einfache Lebensform trägt die Kieselalge bereits Züge höher entwickelter Organismen; ebenso wie Pflanzen ist sie zum Beispiel in der Lage, Photosynthese zu betreiben. So lässt dieser Modellorganismus Rückschlüsse auf höher entwickelte, pflanzliche und tierische Lebensformen zu.

Gemeinsam mit ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen erkannten die Kieler Forschenden, dass die Entwicklung der Redox-Regulation höherer Lebewesen zeitlich mit dem Ablauf einer mehrstufigen Plastiden-Endosymbiose zusammenfiel. Der Vergleich mit den Proteinsequenzen verschiedener Vorgängerorganismen zeigte, dass es bei den Vorfahren der Kieselalgen zeitgleich mit der Aufnahme der ersten Plastide plötzlich zu einem vermehrten Vorkommen von Redox-regulierten Proteinen kam. Diese Proteine verändern ihre biochemischen Eigenschaften, wenn sie mit Radikalen in Kontakt kommen. So erlauben sie dem Organismus, seinen Stoffwechsel auf veränderliche Umweltbedingungen einzustellen. „Wir konnten beobachten, dass sich in der Entwicklung komplexerer pflanzlicher Organismen die für den Stoffwechsel verantwortlichen Proteine immer dann stark veränderten, wenn Zellorganellen hinzukamen“, betont Wöhle, Erstautor der Studie.

Der Mechanismus, mit dem die Kieselalgen die Fähigkeit zur Redox-Regulation erwarben, besteht in einem Übergang der genetischen Informationen aus den nacheinander erworbenen Plastiden in das Genom des aufnehmenden Organismus. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten fest, dass mehr als die Hälfte der an der Redox-Regulation beteiligten Gene aus einzelligen Organismen, in diesem Fall Cyanobakterien, stammen. Diese Beobachtung untermauert die Theorie des Forschungsteams, dass die Fähigkeit zur Redox-Regulation der Zelle auf dem Wege des endosymbiotischen Gentransfers zustande gekommen ist und damit den Grundstein zur Entwicklung höherer Pflanzen legte. „Unsere Ergebnisse erlauben einen Einblick in die evolutionäre Anpassung des Lebens an die photosynthetische Energiegewinnung und die damit notwendig gewordenen erweiterten Regulationsmechanismen der Pflanzenzelle. Sie helfen uns dabei, die Reaktion verschiedener Organismen an eine langfristige Veränderung ihrer Lebensbedingungen besser zu verstehen“, fasst Co-Autorin Professorin Tal Dagan, Leiterin der Arbeitsgruppe Genomische Mikrobiologie an der CAU und Mitglied im „Kiel Evolution Center“ (KEC), zusammen.


Den Artikel finden Sie unter:

http://www.uni-kiel.de/pressemeldungen/index.php?pmid=2017-225-redox-regulation

Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (07/2017)


Publikation
Christian Wöhle, Tal Dagan, Giddy Landan, Assaf Vardi & Shilo Rosenwasser “Expansion of the redox-sensitive proteome coincides with the plastid endosymbiosis” Nature Plants, Published on May 15, 2017, https://www.nature.com/articles/nplants201766

Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.
Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.