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Montag, den 10. August 2020 um 08:07 Uhr

Genetische Ursache angeborener Fehlbildung entdeckt

Spontane Mutationen eines einzigen Gens können vermutlich gravierende Entwicklungsstörungen der Ausscheidungsorgane und Genitalien hervorrufen. Das zeigt eine internationale Studie unter Leitung der Universität Bonn, die in der Fachzeitschrift „Frontiers in Cell and Developmental Biology“ veröffentlicht wird. Die Wissenschaftler verdanken ihre Erkenntnisse auch einem ungewöhnlichen Modell-Organismus: dem Zebrafisch.

Eines von 10.000 Neugeborenen kommt mit Fehlbildungen von Blase, Darm oder Genitalien auf die Welt. Diese Symptome sind Teil des so genannten Blasenekstrophie-Epispadie-Komplexes, abgekürzt BEEC. Da die Störung familiär gehäuft auftritt, nimmt man eine genetische Ursache an. Uneinigkeit herrschte jedoch bislang darüber, welche Erbanlage genau betroffen ist oder ob es gar mehrere sind.

Die jetzt erschienene Studie bringt diesbezüglich Licht ins Dunkel. Bereits vor vier Jahren hatten Forscher um Prof. Dr. Heiko Reutter vom Institut für Humangenetik der Universität Bonn ein Gen entdeckt, das in erkrankten Kindern verändert ist. Die Erbanlage trägt das kryptische Kürzel SLC20A1. „Wir haben uns seine Funktion nun genauer angeschaut“, erklärt Magdalena Rieke, die bei Prof. Reutter promoviert.

Die Wissenschaftlerin nutzte dazu unter anderem die Expertise einer universitären Arbeitsgruppe, die sich nur ganz am Rande mit angeborenen Fehlbildungen beschäftigt: Prof. Dr. Benjamin Odermatt erforscht am Institut für Neuroanatomie die Ursache neurologischer Erkrankungen. Als Modellorganismus dient ihm dazu der Zebrafisch. Nicht nur, weil er sich einfach artgerecht halten und schnell vermehren lässt: Viele seiner Gene kommen in ganz ähnlicher Form auch beim Menschen vor.

Zebrafische als genetisches Modell


Dazu zählt auch SLC20A1. „Wir haben in den Tieren mit einem Wirkstoff verhindert, dass das Gen in Proteine übersetzt werden kann“, erklärt Rieke. „Bei den heranwachsenden Larven war daraufhin unter anderem die Entwicklung ihrer Ausscheidungsorgane gestört. SLC20A1 scheint also für die korrekte Bildung dieser Organe tatsächlich eine zentrale Rolle zu spielen, und das schon seit vielen Millionen Jahren.“ Zusätzlich konnten die Wissenschaftler zeigen, dass das Gen auch in menschlichen Embryonen aktiv ist – und zwar vor allem in Strukturen, die an der Bildung der Ausscheidungsorgane und Genitalien beteiligt sind.

Bei menschlichen Patienten fanden die Forscher drei verschiedene Mutationen von SLC20A1. Diese Veränderungen treten häufig spontan neu auf. Daher können auch Kinder erkranken, deren Eltern völlig gesund sind. In menschlichen Zellkulturen konnte Rieke zusammen mit ihren Kollegen für eine dieser Mutationen zeigen, was sie bewirkt: Sie behindert den kontrollierten Abbau von Zellen – den „programmierten Zelltod“, einen für den Gewebeumbau sehr wichtigen Schritt.

Bei der Embryonalentwicklung werden nicht nur massenhaft neue Zellen gebildet, sondern manche auch ganz gezielt abgetötet. So entsteht beispielsweise die Öffnung des Darms nach außen, der Anus. Den Prozess des programmierten Zelltods nennen Forscher Apoptose. „Möglicherweise erklärt dieser Zusammenhang, warum Mutationen in SLC20A1 so schwerwiegende Entwicklungsstörungen verursachen können“, spekuliert Rieke.

Gestörte Proteinfaltung

SLC20A1 enthält die Bauanleitung eines Proteins, das in der Zellmembran sitzt – der fettähnlichen Hülle, die die Zellen umgibt. Dieses Protein ähnelt einem langen Wurm, der seinen Körper in zahlreiche enge Schleifen gelegt hat, die immer wieder von der Membran-Außenseite nach innen und zurück verlaufen. Computermodelle legen den Schluss nahe, dass zumindest eine der entdeckten Mutationen die korrekte Faltung verhindert. Dadurch wird die Proteinfunktion vermutlich gravierend gestört – und damit auch die Aktivierung der Apoptose.

Erkenntnisse für die Behandlung von BEEC lassen sich aus den Ergebnissen noch nicht direkt ableiten. „Für eine mögliche Prävention oder Therapie ist es aber essentiell, dass wir den Krankheitsmechanismus besser verstehen“, betont Rieke, die selbst als Assistenzärztin in der Kinder- und Jugendmedizin arbeitet. An der Studie waren neben verschiedenen Bonner und deutschen Arbeitsgruppen auch Forschungseinrichtungen aus Schweden, Großbritannien, Italien, Indien und den Niederlanden beteiligt. Sie ist damit auch ein Beispiel für eine gelungene internationale Kooperation.


Den Artikel finden Sie unter:

https://www.uni-bonn.de/neues/169-2020

Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (08/2020)

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